Martin Noël
Blau und andere Farben
Samstag, 29. März 2003 - Sonntag, 29. Juni 2003
"Ich sehe was, was Du nicht siehst" M. Noël
Martin Noël, geboren 1956 in Berlin, gehört zu den nicht unbedingt häufig anzutreffenden bildenden Künstlern, die, von visueller Neugierde getrieben, eigene Standards verlassen und sich dem Neuen öffnen können. überregional bekannt wurde Noël seit Ende der achtziger Jahre als er zeitgleich mit einigen Kollegen seiner Generation den Holzschnitt als genuines Medium wieder entdeckte und weiter entwickelte. Sein künstlerisches Spektrum war jedoch schon damals nicht auf die Druckgrafik zu reduzieren.
1977/78, während eines Studienaufenthaltes an der Glasfachschule Rheinbach, entdeckt Noël seine ausgesprochen zeichnerische Begabung, der er als Student an der renommierten Wirkungsstätte der jungen Wilden, der Fachhochschule Köln, vertiefend nachgeht. Schon früh geht es ihm um die Realisierung von "plastischer Grafik" (Herbert Köhler). In den achtziger Jahren, als Noël sich vorwiegend malend betätigt, ist es das Verhältnis von Motiv und Grund, das ihn primär beschäftigt. Fragmentarisch verkürzt zeigen sich dunkel silhouettierte Menschen, gebettet in einen mehrschichtigen, flirrenden Grund. Mit dem Pinselstil eingegrabene Linienschwünge bringen tiefere Farbschichten zum Vorschein und erzeugen partiell ein zartes Oberflächenrelief. Nur konsequent ist Ende der achtziger Jahre der Übergang zum Holzschnitt. Obwohl sie zwar gelegentlich in verhaltener Abkürzung Kopfformen andeuten, sind die Blätter thematisch meistens frei gehalten, spielen mit dem Verhältnis zwischen den Linienfigurationen und der "leeren" Fläche. Leer ist dabei relativ, denn die Farbfläche des Grundes ist nicht völlig deckend. Immer wieder scheint ein schwarzer Untergrund durch. Das Ergebnis ist malerisch, dicht, und tritt in eine sehr reizvolle Spannung zur Eleganz der Linienführung, die ostasiatischer Kalligraphie nicht fernsteht. Es ist der Widerstand des spröden Materials, der die zeichnende Hand herausfordert, zu einer Begrenzung auf das absolut Notwendige zwingt. "Jeder seiner Striche ist gespannt, als treffe er auf einen Widerstand, als suche er einen Durchstich, als würde er mit einer Reibung kämpfen oder als fände er sich einer Notwendigkeit gegenüber, ohne die die körperliche Welt nicht existieren würde" (John Berger).
Anfang der neunziger Jahre verwendet Noël zunehmend den Holzstock als künstlerisches Ausdrucksmittel. Einem Sgraffito vergleichbar, ist der Bildträger aus mehreren Schichten aufgebaut. Durch Einschneiden in die oberste unbehandelte Fläche tritt kontrastierend ein farbiger Untergrund zutage. Das Verfahren ist aber auch umgekehrt möglich, zuoberst wird die farbige "Haut" in Teilen weggeschnitten, das nackte Holz tritt hervor. Noël betreibt ein stringentes, in der Wirkung raffiniertes Spiel mit vorne und hinten. Die eigentlich auf den Farbgrund gesetzte Zeichnung kann in Wirklichkeit dem Vordergrund unterlegt sein. Das "Bild" entsteht nicht mehr durch Auftragen, sondern durch Wegnehmen. Ausgangspunkt, Initiation für das Bildmotiv sind nicht selten Fundstücke aus dem Alltag, das können Gräser oder Schattenspiele in der Natur sein, häufiger unscheinbare Details in den Stadtlandschaften Europas und Nordamerikas. So ging beispielsweise die 1999 entstandene Reihe "New York Drawing Objekt" vom Anblick der Trottoirplatten rings um das World Trade Center hervor, die bei dem ersten Bombenattentat vor rund einem Jahrzehnt zerbrachen.
Das Werk der letzten Jahre ist bestimmt von der Auseinandersetzung mit dem Maler, Bildhauer, Holzschneider und Glaskünstler Otto Freundlich, der einer der bedeutenden Pioniere abstrakter Formensprache im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts gewesen ist. Noël geht aus vom einzelnen, aus dem Kompositionszusammenhang isolierten Farbfeld Freundlichs, das er in der Kontur zitiert - nicht in der Farbigkeit - und in Kontext mit eigenen Bildanordnungen setzt. Auch in dieser, "Otto" betitelten Folge wird in die aus mehreren Farbschichten gebildete Oberfläche hineingeschnitten, wird die Form langsam freigelegt. Noëls Kunst ist ruhiger geworden. Sie lebt jetzt vom souveränen Kontrast grosser, ruhiger Farbflächen, die oft in provozierenden Pastelltönen gehalten sind. War es früher die nervöse, spannungsgeladene Vibration der Linienzüge, die sein Werk kennzeichnete, so ist es zur Zeit (man weiss nie, wie Noël sich weiterentwickelt) die Tektonik, das leicht und zart wirkende, dabei sehr kraftvolle Gefüge der einzelnen Formelemente. Eine lapidare Kunst, scheinbar mit leichter Hand gestaltet.