«UNTER 30» II - Junge Schweizer Kunst
Die Preisträgerinnen und Preisträger des Kiefer Hablitzel Preises
Sonntag, 18. Juli 2004 - Sonntag, 10. Oktober 2004
Auch in diesem Jahr kann das Museum Liner Appenzell Werke von den PreisträgerInnen der Kiefer Hablitzel Stiftung (KHS) vorstellen. Die KHS ist eine der bedeutendsten Schweizer Stiftungen für die Förderung des kulturellen Nachwuchses. Im Rahmen ihres Förderprogrammes richtet sie alljährlich, in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Kultur, einen Wettbewerb für bildende Künstler «unter 30» Jahren aus. Die Jury bildende Kunst der KHS hat im Frühjahr 2004 aus 165 Bewerbern wieder 20 junge Künstlerinnen und Künstler zur Präsentation ihrer Werke nach Basel eingeladen. Während der Kunstmesse ART 35 Basel hat die KHS an 10 Künstlerinnen und Künstler ihre Förderpreise verliehen. Jurypräsident ist Toni Stooss, Konservator der Stiftung Liner Appenzell. Schon zum zweiten Mal erhalten die PreisträgerInnen mit einer Ausstellung im Museum Liner die Gelegenheit, ihre Werke professionell, im musealen Rahmen und für ein breites Publikum präsentieren zu können. Der Appenzeller Stefan Inauen und die Genfer Gruppe collectif-fact haben als Preisträger bereits im vergangenen Jahr an der Ausstellung «UNTER 30» teilgenommen.
Die Ausstellung mit den insgesamt 12 Künstlerinnen und Künstlern der «Zone 30» stellt eine erfrischende Mischung verschiedener Medien und Inhalte dar. Knüpfen die einen an einen nonchalanten künstlerischen Diskurs an, befassen sich andere mit soziopolitischen Problemen unserer Zeit. Von den 10 PreisträgerInnen kommen 6 (inkl. der 3-teiligen Künstlergruppe «collectif-fact») aus der Romandie und bilden im ostschweizerischen Appenzell regional ein Schwergewicht. Das gesamte Museum wird in die Ausstellung einbezogen, so dass meist mehr als eine Arbeit der einzelnen Künstlerinnen und Künstler präsentiert werden kann. Viele der in Appenzell gezeigten Werke werden speziell für die von Annette Gigon/ Mike Guyer konzipierten 10 Ausstellungsräume und die beiden Foyers geschaffen oder dafür adaptiert. Der Parcours durch die einzelnen Räume ergibt – gerade der verschiedenen inhaltlichen und medialen Ausdrucksweisen wegen – eine spannende Zusammenstellung der künstlerischen Produktion «unter 30», die über die einzelnen Werke hinaus Bezüge und gemeinsame Tendenzen feststellen lässt. Bernhard Bischoff, freier Kurator und Galerist in Thun, begleitet die Künstlerinnen und Künstler als Gastkurator:
Rudy Decelière (Genève, * 1979). Sein generelles Thema ist die Interaktion von Akustik (mit «Tonträgern» wie Instrumenten, Lautsprechern, Klangobjekten) und visueller Kunst. Für Appenzell entsteht eine Installation mit neun Violinen. Anstatt Lautsprecherboxen nutzt Decelière den Resonanzkörper der Instrumente, um seine Toncollagen zu übertragen.
Philippe Decreuzat (Lausanne, *1974) lässt durch raumgreifende Wandbilder und grossflächige Leinwände, die einer neuen Version von «Op Art» verpflichtet sind, gewohnte Perspektiven des Betrachters verschwimmen. Raum- und Bildtiefen gehen einen irritierenden Dialog ein. In der Ausstellung zeigt er seine «psychedelisch» anmutenden Malereien neben einer sich drehenden schwarzen Halbkugel. Die Bilder und die der Halbkugel in unregelmässigen Abständen entweichenden Sätze beziehen sich auf kommerzielle Filme.
Philippe Dudouit (Lausanne, *1977) überzeugt mit Fotografien von eindrücklicher Präsenz, die sich in kritischer Schwebe zwischen Reportage und Inszenierung, zwischen Kriegsdokumentation und Modefotografie halten. Auf seinen Reisen durch Ex-Jugoslawien oder Tschetschenien besuchte er Untergrundkämpfer und liess sie nach deren eigener Vorstellung posieren. Eine wohlüberlegte und dennoch unprätentiöse Präsentation verstärkt die spektakuläre Wirkung. Das im Raum nebenan gezeigte Video collagiert Propagandafilme, die in ungewohnter Manier zum «Heiligen Krieg» aufrufen.
Stefan Inauen (Berlin, *1976) stammt aus Appenzell, lebt und studiert in Berlin und entwickelt vor diesem biografischen Hintergrund im Grenzbereich von Malerei und Zeichnung eine bemerkenswerte Diskussion um regionale und internationale Positionen. Zwischen spontaner, «wilder Malerei» und konzeptueller Erinnerungsarbeit verarbeitet er Themen unserer Zeit – einmal ironisch-humorvoll, einmal sarkastisch-ernst.
Julia Kälin (Luzern, *1977) verblüfft in ihren Videos oftmals mit absurd-surrealen Momenten. Mit ihrer präzis gestalteten synchronisierten Vier-Kanal-Videoinstallation bezieht sie tendenziell sämtliche Sinne der Betrachter mit ein. Wie hingeworfen wirkende Puppen blähen sich auf, langsam tritt roter, sich ausdehnende Hefeteig aus sämtlichen Stoffritzen und geplatzten Nähten. Was einerseits an «Mutanten» aus Science-Fiction-Filmen erinnert, evoziert andererseits Szenen aus der Pathologie. Die Eindringlichkeit der Bilder wird verstärkt durch eine monotone Tonspur und den Geruch von Desinfektionsmitteln.
Petra Elena Köhle (Zürich, * 1977) berichtet von grossen historischen Themen und zeitgenössischen Ereignis-sen in grazilen, präzis gearbeiteten Papierskulpturen. In ihrer «enzyklopädischen», von assoziativen Texten begleiteten Installation erlangt die breit gefächerte «Übersicht» eine starke atmosphärische Präsenz. Im Museum Liner bespielt sie zwei Räume. Als «Geschichtenerzählerin» belegt sie diese mit Fundstücken und Objekten, die sie eigens dazu herstellt. Die beiden Räume ergänzen sich gegenseitig, wobei im westlichen Fensterraum eine Installation mit Raben die Besucher direkt ins Geschehen einbezieht.
Yves Mettler (Morges, * 1976) verortet zumeist das urbane Umfeld – Strassen, Plätze, Reaktionen von Passanten. In seiner am Wettbewerb in Basel gezeigten Arbeit gehen die mit einfachen Kartonkonstruktionen evozierte Tal- und die Bergstation einer fiktiven Bergbahn einen umgangssprachlichen Diskurs ein: eine originelle, ironische Auseinandersetzung mit Raum, Zeit und Identität im Zeitalter des touristischen «Neo-Kolonialismus». Der z. Zt. in Wien lebende Künstler baut für Appenzell eine Modellsstadt, die einerseits an Spielzeug erinnert, andererseits dem Traum nach eigenem Haus und Grund nachgeht. Dies wird umso mehr betont, als die Modellhäuser sprechen und in rascher Folge französisch «Moi» (Ich) sagen, was akustisch als Hundegebell verstanden werden könnte.
collectif-fact (Claude Piguet ,*1977, Annelore Schneider,*1979, Swan Thommen *1979; alle Genève), das Genfer Kollektiv, das sich seit einigen Jahren computergenerierter Kunst widmet, überzeugt erneut im virtuosen Umgang mit fliessend ineinander übergehenden Bild-Raumkonstruktionen, die auf realen Fotos von Strassenräumen, Häuserzeilen, Signalisationen, Autos und Fussgängern im urbanen Umfeld aufbauen. Die Schichtung von Bildebenen mittels virtueller Kamerafahrten erzeugt einen Wahrnehmungsfluss, den wir im Zeitalter medial vermittelter Splitterästhetik, die uns die Umwelt fragmentarisch dekodieren lässt, als „real“ und zeitgenössisch erleben. So auch in den beiden gezeigten Videoarbeiten. Die eine resultiert aus der ehrgeizigen Absicht, einen von Jacques Tati gedrehten Film aus dem zweidimensionalen «Bildraum» in die Dreidimensionalität zu transferieren. Das Unternehmen gelingt, das Vorstellungsvermögen der Betrachter wird jedoch stark herausgefordert. Das andere Video zeigt eine nächtliche Strassenansicht, in die unvermittelt - unter Kuhglockengeläut - Autos «hineinfliegen».
Guadalupe Ruiz Cifuentes Rihs (Lausanne, *1978), aus Kolumbien stammend und seit vielen Jahren in Lausanne lebend, stellt Fotoserien aus ihrem Heimatland oder ihrer Umgebung so zusammen, dass sie einer Partitur oder einem Filmscript zu entsprechen scheinen. Ihre Einzelbilder verdichten sich im repetitiven Rhythmus zu einem emotionell aufgeladenen Bildraum. In Appenzell zeigt sie eine Serie Fotografien aus Bogotà. Das eigentümliche Steuersystem, das die Bevölkerung in sechs Kategorien einteilt, war Ausgangspunkt der Arbeit: Wie leben die Reichen in der höchsten Steuerklasse, wie die Armen in der niedrigsten? Lässt sich gar ein «kolumbianischer Geschmack» über alle Klassen hinweg feststellen?
Judith Schönenberger (Bern, *1977) hat im Umfeld der «Gayszene» nach Modellen gesucht, die durch ihre Androgynität bestechen und im Alltag oft mit andersgeschlechtlichen Menschen verwechselt werden. In einer Serie von fast lebensgross aufgenommenen Fotos zeigt sie «Tomboys», also Frauen, die ihrer Physiognomie wegen fortwährend für Männer gehalten werden. Eine weitere Serie, als Diashow konzipiert, zeigt «Dragkings», d.h. als Männer verkleidete Frauen, anlässlich einer «Gayparty». Die formal durchgestaltete Fotoserie, die mit typischen und antrainierten Verhaltens- und Betrachtungsmustern spielt, wird gleichsam kommentiert durch einen dokumentarischen Szenenbericht. Beide Arbeiten sind in authentischer Weise der künstlerischen Umsetzung gegenwärtiger Gender-Themen verpflichtet.
Durch die klare Raumfolge des Museum Liner können alle Kunstschaffenden mit ihren Werken die Autonomie wahren, gleichzeitig aber auch in Dialog treten mit den Altersgenossen. Die Ausstellung «Unter 30» II gibt in den insgesamt 12 Räumen Einblick in das Spektrum der jungen Schweizer Kunstszene, von der Malerei über die Skulptur, die Fotografie und die digitalisierte Videoprojektion bis hin zur multimedialen Installation.
Nach Eröffnung der Ausstellung erschien eine Broschüre mit Abbildungen sämtlicher Installationen. Zu 3.- Schutzgebühr. Zum Shop
Wir danken für die Unterstützung der Ausstellung:
Kiefer Hablitzel Stiftung
Pro Helvetia,
Schweizer Kulturstiftung