Carl Walter Liner
Die Farbe Schwarz
Sonntag, 15. November 2009 - Sonntag, 07. März 2010
Carl Walter Liner (1914-1997), der in der Hauptsache eine künstlerische Ausbildung bei seinem Vater Carl August Liner (1871-1946), einem Vertreter der spät-impressionistischen Landschafts- und Genremalerei, genoss, knüpfte in den 1930er Jahren folgerichtig an die Motive und Themen seines Vorbildes an. Stilistisch bemühte er sich allerdings schon in jungen Jahren um einen Anschluss an die expressiven wie auch neusachlichen Tendenzen der Epoche vor dem 2. Weltkrieg. Die Werke Liners bis 1950 sind Zeugnisse einer künstlerischen Suche, einer „recherche des possibilités artistiques“. Die Jahre ab 1950 waren für den Künstler allerdings eine Zeit des Umbruchs, des Versuchs auch, sich den abstrakten und gestischen Kunstrichtungen anzuschliessen, die er vor allem in Paris, seinem zweiten Lebensmittelpunkt, kennengelernt hatte. Die starkfarbigen, oft tektonisch aufgebauten und formal reduzierten „inneren“ Landschaften, die nun folgten, zeigen deutlich Liners Beschäftigung mit der Malerei Cézannes, der Kubisten und der Fauves. Gleichzeitig sind sie Entsprechungen zu den abstrakten, expressiv aufgeladenen Gemälden der Pariser Tachisten.
Ab 1950 führt der Künstler keine Landschaftsstücke mehr auf, sondern inszeniert die wilde und unbekannte Welt der Farben – wobei er grundsätzlich immer Assoziationen an Natur, Figur und Kosmos zulässt, manchmal geradezu herausfordert. Liner modulierte und erweiterte kontinuierlich seine eigenständig entwickelte Ausdrucksform, welche zwar im eigentlichen Sinne selbstreflexiv, d.h. „l’art-pour-l’art“ ist, aber dennoch auf das übergeordnete ideengeschichtliche Umfeld der Suche nach einer universell gültigen Kunst-Sprache verweist.
In der Ausstellung wird der Fokus auf eine besondere Eigentümlichkeit Liners gerichtet: seinen Einsatz der Farbe Schwarz, der den ersten visuellen Eindruck seiner Gemälde in beträchtlichem Masse prägt. Die Ausstellung will belegen, dass Liner die Farbe Schwarz als strukturelles Ordnungselement, als differenzierte Farbigkeit zwischen matt und schillernd und als dynamische, fast kalligraphische Bewegungsspur nutzte. Liner ging nie vom Schwarz in der Bleistift- oder Kohlezeichnung oder in der Druckgraphik aus. Obwohl er diese Medien auch beherrschte, war für ihn das Schwarz weder lineares Konturengeflecht noch diffuses Clair-Obscur. Schwarz war für den Künstler in der Hauptsache lichtlose oder lichtschluckende, formbare Materie, die deutlicher als jede andere Farbe die Präsenz seiner künstlerischen Arbeit oder Geste im jeweiligen Bild anzeigt: die Bewegung des Pinsels und des Spachtelns, die Wertigkeit des Aufrauens und des Glättens von Farbpaste im malerischen Prozess, das Kippen von der monochromen Fläche in die reliefartige Struktur, das Aufleuchten von Farbspuren in einer an sich kompakten, dichten Nichtfarbigkeit, die Schwarz ja im landläufigen Verständnis ist.
In manchen Werken geht Liner gar so weit, dass er die Reflektion von Aussen-, von Lichtfarben auf der glänzenden Oberfläche des von ihm aufgetragenen Schwarz als kompositorisches Mittel berücksichtigt. Ganz sicher hat Liner die Absorption und die Reflektion von Licht auf dunklen oder schwarzen Flächen in spielerischer und dennoch letztlich systematischer Art und Weise untersucht – dies zeigen jene Bildstellen, an denen die ursprünglich glänzende und einheitlich flache schwarze Zone durch Kratzen und Schaben nachträglich mattiert oder geriffelt wurde, so dass an diesen Stellen, das Licht nicht mehr ungebrochen reflektiert wird, sondern entweder im Wortsinne verschluckt oder umgelenkt wird. Ein einfacher malerischer Vorgang, der dem betrachtenden Auge dann die Wahrnehmung eines vielfältigen Schwarz erlaubt, das nicht einfach stumm ist, sondern den bildinternen Diskurs der Farben beträchtlich bereichert.
Schwarz wird bei Liner zu einem Körper in Bewegung, zu einer lichtlosen Zone, die grellbunte Farbexplosionen in gewisser Weise im Zaum hält, zu einem chiffrenhaften Zeichen, das Archaisches anklingen lässt. Schwarz kann aber auch einfach den Grund – jene physikalische Verdichtung aller Farben – bilden, auf dem sich die „richtigen“, die im Wortsinn echten Farben, die Buntfarben, erst entfalten können, ein schwarzes Beben, das alles andere, das Bunte und das Farblose erst strahlen oder leuchten lässt – als würde man mit einer Sonnenbrille eine Sonnenfinsternis betrachten.
Selbstverständlich kann Schwarz auch bei Liner Schatten sein, kann Vorder- und Hintergund voneinander scheiden, kann einen Baumstamm bezeichnen, kann Menschenskizze werden, kann die Konturen eines Schädels andeuten, kann als Rückbezug auf das Cloisonné von Kirchenfenstern oder von Gemälden der Nabis gelesen werden, kann grundsätzlich als spiritueller oder philosophischer Verweis auf das Nichts (oder auf Gott) gelesen werden – aber Schwarz ist in seinen Werken vor allem eine autonom ästhetische Identität, eine Entität, die auf das Machen oder Werden von Bildern verweist und die letztendlich nichts anderes als sich selbst bedeutet.
Auf ganz eigene Weise ist Liner hier ebenso radikal wie Kasimir Malewitsch Jahrzehnte zuvor mit seinem Hauptwerk, dem Schwarzen Quadrat auf weissem Grund (1915), welches heute als Inkunabel einer ikonischen Moderne gesehen wird, einer Moderne, in der die Bilder absolut, Objekte eigener Wertigkeit, sind – und deren Bedeutung ausschliesslich in einem annähernden, hermeneutischen Verstehensprozess beschrieben werden kann – wenn überhaupt.
Vielleicht wird gerade im Schwarz Liners seine künstlerische Energie, sein auf die Malerei bezogener Vitalismus für einen Augenblick spürbar, fassbar: „Der Maler vermittelt eine Phantasiewelt, eine abstrakte Welt, eine geistige Welt, die über das rein Materielle hinweghebt“ (Carl Walter Liner, 1981).
Begleitpublikation zur Ausstellung: Carl Walter Liner, Die Farbe Schwarz, Hrsg. Roland Scotti im Auftrag der Stiftung Liner Appenzell Zum Shop